Industrialisierung in Stuttgart

Im Vergleich zu anderen Metropolen erreicht die industrielle Revolution Stuttgart erst spät. Die abgeschiedene Tallage der Stadt verhindert die Ansiedlung von Industrie, auch gibt es keine Rohstoffe wie etwa im Ruhrgebiet. Noch 1871 zeigt der Blick auf Stuttgart die beschauliche Residenzstadt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wächst allerdings auch Stuttgart rapide: Mitte der 1860er Jahre hat Stuttgart knapp 70.000 Einwohner, 1895 sind es beinahe 160.000.

Die Landbevölkerung, die nun in der Stadt Arbeit sucht, findet keine Wohnungen mehr. Unterstützt durch Königin Olga führt der Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen 1886 eine große Erhebung durch: Ziel ist es herauszufinden, wie es tatsächlich um die Wohnsituation der Arbeiter bestellt ist. 413 der 3.000 befragten Familien leben mit fünf oder mehr Personen in Zweizimmerwohnungen, 352 Familien müssen ihre Küche oder Kochstelle mit anderen Familien teilen, 537 haben gar keine Küche und müssen in einem der Zimmer kochen. Viele Wohnungen sind feucht, dunkel und schlecht belüftet.

Ein besonderes Problem, so das Ergebnis der Umfrage, ist das Schlafgängerwesen. Schlafgänger nannte man Arbeiter, die gegen ein geringes Entgelt ein Bett für nur einige Stunden in einer fremden Wohnung mieteten. Der Verein gründet gemeinsam mit dem Arbeiterbildungsverein die Stiftung Arbeiterheim. 1890 öffnet das erste Ledigenheim in Stuttgart in der Heusteigstraße 45 seine Tore, das sogenannte Eduard-Pfeiffer-Haus. 240 Schlafgäste finden hier Platz. Zum Angebot gehört preiswerte und gesunde Verpflegung sowie eine Hauswäscherei. Es gibt einen Gemeinschaftsraum und eine Bücherei. Der Preis (zwischen 1,20 und 3 Mark pro Person und Woche) liegt deutlich unter dem freien Wohnungsmarkt. Wegen des großen Andrangs errichtet der Verein bis zum Sommer 1912 ein weiteres Heim, das sogenannte Ledigenheim an der Villastraße unterhalb der Villa Berg. Es bietet auf vier Stockwerken mit 16 Einzel- und 92 Doppelzimmern etwa 200 Bewohnern Unterkunft.

Nachdem die drängendsten Probleme der Schlafgänger gemildert sind, baut der Verein in Ostheim eine Modellsiedlung, in der Familien aus den untersten Einkommensschichten ein attraktives Zuhause finden.

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Dr. Bernd Langner über das ausgehende 19. Jahrhundert in Stuttgart

Dr. Bernd Langner: Studium der Kunstgeschichte und Germanistik in Stuttgart. Promotion über die Bauprojekte des Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen unter Eduard Pfeiffer und dessen Architekt Karl Hengerer. Zahlreiche Veröffentlichungen, Vorträge und Führungen zur Stadt-, Kunst- und Baugeschichte Stuttgarts und Württembergs. Beruflich und als Gutachter langjährige Tätigkeit im Denkmalschutz und in Projekten zum Erhalt der Kulturlandschaft. Bis 2013 Lehrbeauftragter an der Universität Stuttgart für Kunst- und Architekturgeschichte. Heute Geschäftsführer des Schwäbischen Heimatbundes e.V. mit Aufgaben in Natur- und Denkmalschutz sowie Landeskultur und Landeskunde.